Carolin Sticher weiß, sie muss jetzt ruhig bleiben. Luft holen, langsam ausatmen, Jagdgewehr anheben, zielen, abdrücken. Die 24-jährige Studentin steht in einem Kiefernwald in Mecklenburg-Vorpommern, es ist noch sehr früh und so kalt, dass Sticher ihren Atem sieht. Es ist ihr zweites Mal am Schießstand, sie ist unruhig.
Sie denkt: Belaste die Füße gleichmäßig, um einen sicheren Stand zu haben.
Sie denkt: Zieh den Gewehrschaft fest in die rechte Schulter, damit der Rückstoß nicht schmerzt.
Sie denkt: Krümm den rechten Zeigefinger nur leicht, um den Abzug mit dem oberen Glied zu erwischen.
Sie denkt: Ich muss treffen. Es knallt, 165 Dezibel, Düsenjägerlautstärke.
Daneben. „Scheiße“, sagt Sticher. „Hör auf zu denken“, sagt der Schießlehrer an ihrer Seite.
Carolin Sticher steht in Sneakers, Jeans und weißem Kapuzenpulli in der Bretterbude eines Schießstands bei Schwerin, die braunen Haare hat sie zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, die Wimpern getuscht. An der rechten Hand trägt sie drei Silberringe, auf den Nägeln farblosen Lack. 50 Meter vor ihr fährt das Bild eines Keilers von rechts nach links. Sie müsste die Zielscheibe auf der vorderen Körperhälfte treffen. Zehn Punkte sind perfekt, sie bedeuten: Lunge getroffen.
Neben der Novizin steht an diesem Sommermorgen Helmut Herbold, 55, Jäger seit seinem 17. Lebensjahr. Er trägt derbe Schuhe, einen grünen Wollpulli über dem karierten Hemd und eine Schiebermütze. Er sagt: „Das ist Hochleistungssport, was wir hier machen.“ Und: „Das muss auch Spaß machen.“
Wenn Herbold das alte Bild der Jagd verkörpert, steht Sticher für das neue. Sie ist jung, sie kommt aus der Stadt, in ihrer Familie hat das Schießen keine Tradition. Die Studentin steht für einen erstaunlichen Trend: Die Jägerschaft in Deutschland wird jünger, weiblicher, moderner. Noch nie interessierten sich so viele Menschen fürs Pirschen und Schießen. Im vorigen Jahr besaßen deutschlandweit 361557 Menschen den Jagdschein, rund 23 000 mehr als noch vor zehn Jahren; auf 223 Einwohner kommt ein Jäger. Inzwischen sind knapp 20 Prozent der Anwärter Frauen. Auf Gut Grambow bei Schwerin, wo Carolin Sticher gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem jüngeren Bruder und ihrem Freund den Jagdschein macht, lag die Frauenquote 2013 bei 27 Prozent, von allen Teilnehmern kommen etwa 40 Prozent aus der Stadt. Für Herbold, der seit 1998 auf dem Gut die Schulungen leitet, ist es „die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit, die viele Frauen und Großstädter zur Jagd treibt“.
Vor Jahrzehnten war die Rolle der Frau bei der Jagd klar definiert: Sie bereitete das Wildbret zu. Inzwischen gelten Jägerinnen nicht mehr als Exotinnen. Prüfer schätzen sie als besonnene Schützen. Es gibt Internetseiten und Bücher, die sich an jagende Frauen richten, seit 2011 sogar ein Fachmagazin. Die „typische Jungjägerin“, so eine Umfrage des Deutschen Jagdverbands (DJV), sei Mitte dreißig und komme aus der Stadt.
Viel mehr als ihre Vorliebe für Wildbraten hat Carolin Sticher mit der Jagd bisher nicht verbunden. Sie macht die Ausbildung, weil sie die Natur besser verstehen und einen Ausgleich zum Uni-Alltag will. Weg vom Laptop, raus in den Wald. Damit gehe es Sticher, so der Jägerverband, wie dem Großteil der Jungjäger: 86 Prozent der Prüflinge machen laut DJV ihren Jagdschein, weil sie gern in der Natur sind, auf Platz zwei der Motivationsrangliste liegt mit 74 Prozent der Naturschutz.
Sticher hat in Hannover und Hildesheim Mathematik und Biologie auf Lehramt studiert, ein halbes Jahr fehlt ihr noch bis zum Abschluss. Trotzdem hat sie das Gefühl, zu wenig über die Natur zu wissen. In der Jagdschule beschäftigt sie sich drei Wochen lang mit wenig anderem. Auf dem Weg vom Klassenzimmer bis zum Kaffeeautomaten hängen 17 Tierschädel und fünf Infotafeln zu Themen wie „Die Rote Waldameise“ oder „Die Entwicklung des Damhirschgeweihs“, abends geht sie in der Jagd-App die Prüfungsfragen durch.
Der Großteil des Kurses, mindestens 123 Stunden, besteht aus Theorie, der Ordner mit Materialien fürs „grüne Abitur“ ist fast zehn Zentimeter dick. Die Schüler müssen einen Schießtest, eine schriftliche und eine mündliche Prüfung bestehen.
Dass Sticher in ihren Semesterferien nun in Mecklenburg-Vorpommern sitzt, hat auch mit ihrem Wunsch nach gesunder Ernährung zu tun. Sie will wissen, woher das Fleisch auf ihrem Teller kommt; und nicht, dass es vorher mit Antibiotika vollgepumpt und in Plastikfolie verpackt beim Discounter im Regal lag – wobei das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung warnt, die Belastung mit giftigem Blei aus der Jagdmunition stelle bei zu hohem Wildverzehr ein erhöhtes Gesundheitsrisiko dar.
Wenn Sticher überhaupt Fleisch kauft, geht sie zu einem Metzger, dessen Produk – te von Tieren aus der Region stammen. Öl und Pesto holt die angehende Lehrerin beim Italiener, der die Waren aus seiner Heimat importiert. „Wenn ich ein Tier schieße, hat es bis zu seinem Tod nicht gelitten“, sagt Sticher.
Neben den Schießübungen und der Theorie gehört natürlich auch der blutige Teil zur Jagdausbildung. Aufbrechen heißt es im Fachjargon, wenn die Tiere aufgeschnitten und die Eingeweide entfernt werden. Für Sticher ist es gleich am ersten Tag so weit: Einer der Lehrer hat einen zwei Jahre alten Rehbock geschossen, nun liegt das 16-Kilogramm-Tier in der Wildkammer der Jagdschule, ein weiß gefliester Raum, in dem Metalltische stehen, große Haken von der Decke hängen und in dem das Atmen durch die Nase schwerfällt, so unangenehm riecht es nach Eisen, nach Blut.
Sticher beobachtet mit den 14 anderen Schülern, wie der Jäger den Hals des Bocks aufschlitzt und die Speiseröhre verknotet, damit der Mageninhalt nicht nach außen dringt. Am Ende hängt der Bock kopfüber, leer und in der Mitte aufgeklappt am Haken, wird mit Wasser ausgespült und in die Kühlkammer gehängt.
Ist doch interessant“, sagt Sticher. „Wer nur die Keule kennt, hat den Bezug zum Tier verloren.“ Sie hat in ihrem Studium schon Ratten seziert und an Gehirnzellen von Zwerghamstern geforscht. Aber an toten Tieren zu arbeiten oder Tiere selbst zu töten macht auch für sie einen großen Unterschied. Deshalb hat sie am Schießstand gezögert, obwohl sie bloß eine Zielscheibe im Visier hatte: „Den Anspruch habe ich schon, dass das Tier sofort tot ist, wenn ich schieße. Ich will es nicht verwunden, es soll sich nicht verletzt weiterschleppen und leiden“ – was aber in der Praxis viel zu häufig vorkommt.
Als Carolin Sticher in ihrem Freundeskreis erzählte, wie sie ihre Semesterferien verbringen werde, hätten die meisten posi – tiv reagiert. Passt doch zu dir, der angehen – den Biolehrerin, habe es geheißen. Nur einer wollte diskutieren: Wie kannst du das nur? Tiere töten?
Für Sticher ist klar: Die Jagd ist notwendig, um Wildbestände zu regulieren und Schäden in der Land- und Forstwirtschaft möglichst gering zu halten. Naturschützer hingegen betrachten die Jagd vor allem als Hobby und kritisieren, dass Jäger Wild häufig über den Winter hinweg füttern, um es dann zu erlegen. Drei Wochen auf Gut Grambow kosten 2880 Euro, für Führungskräfte wird ein Zwei-Wochen-Schnelldurchlauf für 6000 Euro angeboten, Unterkunft und Verpflegung gehen extra.
Lehrer Herbold macht sich mit Carolin Sticher auf den Weg zum Hochsitz, er zeigt ihr Fährten im Schlamm und erklärt, an welchen Bäumen das Rehwild fegt, sich also den Bast vom Gehörn reibt. Vor zwei Jahren war Sticher das letzte Mal bewusst in der Natur, zum Pflanzensammeln für die Uni. Elf Holzsprossen steigen Ausbilder und Azubi zum Ansitz hoch, rechts von ihnen erstreckt sich ein Weizenfeld bis zum Horizont, links ein Wald, und wenn das ungleiche Paar geradeaus blickt, sieht es eine Wiese, einen Bach, ein abge – erntetes Rapsfeld. Herbold hat sein Gewehrgriffbereit stehen, beide holen sich die Außenwelt durchs Fernglas in das Holzkabuff.
Ruhig müssen sie sein, bloß kein Wild verschrecken. Sticher und Herbold sitzen und schweigen und warten. Um 19.55 Uhr kommt ein Heißluftballon vorbeigeflogen, um 20.11 Uhr zwei Ringeltauben. Um 20.28 Uhr entdecken sie im Rapsfeld eine Ricke mit ihrem Kitz, um 20.40 Uhr schiebt sich der Mond über die Baumwipfel.
„An was denken Sie, Frau Sticher?“
„Man schaut und denkt nicht viel.“
Anna-Lena Rot